Analyse vorhandener Studien zur Politikberatung

  • Im jüngsten Sonderbericht des Weltklimarates (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) zum 1,5°C-Klimaziel wurden vier so genannte Illustrative Modellpfade beschrieben und bewertet. Dabei werden Bevölkerungsszenarien verwendet, die auf den Bevölkerungsprognosen von 2010 aufbauen. Da diese viel zu optimistisch sind, wird in Zukunft deutlich weniger Landfläche pro Person zur Verfügung stehen als in diesen Szenarien angenommen.

  • Insbesondere die Szenarien, die eine Einhaltung des 1,5°C-Klimaschutzziel erlauben, basieren auf so genannten Negativ-Emissions-Technologien, zwei davon sind BECSS (Bioenergie mit CO2-Abscheidung und -Speicherung) und AR (Aufforstung und Wiederaufforstung). Beide benötigen eine beträchtliche Landfläche, um Biomasse anzubauen. Würde die Bevölkerung auch nur der mittleren Variante der Projektionen folgen, wäre diese Landfläche nicht verfügbar, ohne die Zahl unterernährter Menschen zu vergrößern.

  • Auch die verwendeten Energieszenarien gehen von Kohlendioxidemissionen aus, die deutlich schneller abnehmen, als es aus heutiger Sicht möglich ist, da sie auf älteren Daten aufbauen. Da der Ausbau nachhaltiger Energietechnologien nicht wie früher angenommen umgesetzt wurde, ist der Ausgangspunkt tatsächlich schlechter als angenommen und der Aufwand, um diesen Rückstand gegenüber früheren Schätzungen wieder aufzuholen, deutlich höher als in den Szenarien dargestellt.

  • Auch in der jüngsten Strategie der EU für eine nachhaltige Energieversorgung wird nur die mittlere Variante des Bevölkerungswachstums berücksichtigt. Jede etwas schlechtere Entwicklung, die aber aller Wahrscheinlichkeit nach eintreten wird, würde also in Frage stellen, ob die Ziele mit den vorgestellten Mitteln erreicht werden können.

  • Insgesamt zeichnen die aktuellen Leitlinien für die Politik ein deutlich zu optimistisches Bild. Während womöglich die Folgen des Klimawandels richtig beschrieben werden, werden für die Prognosen von Bevölkerungswachstum und Energiewende nur zu optimistisch (IPCC) oder höchstens mit einem Mittelszenario (EU) analysiert. Es fehlt die Berücksichtigung von ungünstigeren Szenarien, die realistisch auftreten können. So werden sich die Herausforderungen für die Menschheit absehbar deutlich dramatischer herausstellen als es heute erwartet wird.

Die hier vorgestellte Diskussion ist an eine Publikation in ChemBioEng Reviews angelehnt:
Pfennig, A.: Sustainable Bio- or CO2-Economy: Chances, Risks, and Systems Perspective.

ChemBioEng Reviews (2019) 6(3), 90-104.

Die Aufgabe des Weltklimarates (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) ist es, die Daten zum Klimawandel zusammenzutragen und zu bewerten. Der Weltklimarat sind Wissenschaftler sehr unterschiedlicher Disziplinen, die vorhandene Publikationen auswerten und versuchen, ein einheitliches Bild der wissenschaftlichen Faktenlage zu entwickeln. Der Weltklimarat führt selbst keine Studien durch.

Im letzten großen Report, dem ‚Fifth Assessment Report‘, der in mehreren Bänden 2013 und 2014 veröffentlicht wurde, wurde auch das Bevölkerungswachstum ausgewertet. Dazu ist in Abbildung 6.1 des Bandes ‚Mitigation of Climate Change' (Figure 6.1, die linke obere Grafik bezieht sich auf das Bevölkerungswachstum) eine Auswertung von diversen Studien gezeigt. In dem Report wird zu diesen Szenarien zwar angegeben, dass die Auswertung keine Aussage dazu zulässt, mit welcher Wahrscheinlichkeit die gezeigten Szenarien auftreten, aber dennoch festgestellt, dass die Aussagen von Experten stammen und gute Einsichten in die zu erwartende Entwicklung geben. In der Grafik sind drei UN-Szenarien zur globalen Bevölkerungsentwicklung verglichen mit dem Bereich, in dem 95% aller Studien mit ihren Szenarien liegen. Eine genauere Betrachtung der ausgewerteten Zahlen zeigt, dass die in dieser Grafik dargestellten UN-Szenarien die damals aktuellsten sind, nämlich die im Jahr 2012 publizierten. Dagegen verwenden die für die Grafik ausgewerteten Studien, die naturgemäß früher publiziert wurden, das mittlere Bevölkerungs-Szenario der UN, aber aus früheren Versionen. Wie in Abbildung 1 gezeigt, wurde in den berücksichtigten Studien, soweit dies noch feststellbar war, das mittlere UN-Szenario in den Versionen zwischen 2004 und 2010 verwendet. Dies wurde in der Grafik des Weltklimarates mit den Szenarien von 2012 verglichen. Da die UN ihre Szenarien in diesen Jahren zwischen den Publikationen stets etwas zu höheren Werten vesrchoben hat, liegen die ausgewerteten Szenarien der Literatur in einem engen Bereich. Dies wird so interpretiert, dass die Szenarien ein recht einheitliches Bild zeichnen, obwohl dies alleine darauf zurückzuführen ist, dass alle früheren Studien die mittlere Bevölkerungsvariante der UN verwendet haben, die lediglich jeweils leicht nach oben korrigiert wurde. Die Szenarien liegen zwangsweise unterhalb des gezeigten mittleren Szenarios, ebenfalls ausschließlich weil die UN ihre Vorhersagen stets nach oben verschoben hat. Es entsteht also fälschlicherweise der Eindruck, dass die meisten Szenarien vorhandener Studien ein Bevölkerungswachstum unterhalb des mittleren Szenarios vorhersagen. Dies ist alleine auf den stetigen Anstieg der UN-Prognosen zurückzuführen, denn alle Studien, zu denen entsprechende Informationen gefunden werden konnten, nutzen einheitlich das mittlere UN-Szenario.

Weltbevölkerung nach den Studien, die in Abbildung 6.1 des 5-ten Assessment Reports des Weltklimarates verglichen sind 

Abbildung 1: Weltbevölkerung nach den Studien, die in Abbildung 6.1 des 5-ten Assessment Reports des Weltklimarates verglichen sind, Daten: UN World Population Prospects sowie frühere Versionen.

 

Es ist also weder so, dass unabhängige Studien ein einheitliches Bild der Bevölkerungsentwicklung zeichnen – alle Studien verlassen sich auf das mittlere Szenario der UN. Noch ist es so, dass die Experten sich einig sind, dass das Bevölkerungswachstum sich unterhalb des mittleren UN-Szenarios entwickeln wird. Stattdessen haben alle Studien systematisch das mittlere Szenario verwendet, was, wenn man den nach oben weisenden Trend zwischen den Publikationen auswertet, darauf hindeutet, dass sich die Weltbevölkerung womöglich entsprechend des hohen Bevölkerungsszenarios oder sogar noch höher entwickeln wird.

Leider sind auch in der aktuellsten Studie des Weltklimarates, dem Spezialreport zum 1,5°C-Klimawandel vom Oktober 2018 (https://www.ipcc.ch/sr15/) entsprechend viel zu niedrige Bevölkerungsszenarien berücksichtigt, die letztendlich auf den Projektionen der UN von 2010 aufbauen. In diesem Report werden vier sogenannte Illustrative Modellpfade vorgestellt, die mit P1 bis P4 bezeichnet sind. Diese Modellpfade sind dabei so ausgewählt, dass es mit ihnen gelingen kann den Klimawandel zu stoppen. In Abbildung 2 ist gezeigt, dass die diesen Szenarien zugrundeliegenden Bevölkerungs-Prognosen deutlich unterhalb des aktuellen mittleren Bevölkerungsszenarios der UN liegen, P2 und P4 sogar teilweise unterhalb der niedrigen UN-Bevölkerungsvariante. Diese Szenarien sind also nach heutigem Wissensstand deutlich zu niedrig angesetzt. Als Konsequenz werden in den Illustrativen Modellpfaden P3 und P4 große Anteile an Bioenergie berücksichtigt, die auf 15% bzw. 40% der Ackerfläche gewonnen werden. Diese Szenarien der Illustrativen Modellpfade berücksichtigten dann sogenannten Negativ-Emissions-Technologien wie BECCS (Bioenergie mit CO2-Abscheidung und -Speicherung) und AR (Aufforstung und Wiederaufforstung) in teilweise erheblichem Umfang, um den Klimaschutz zu gewährleisten. Diese Technologien benötigen entsprechend für die Erzeugung der Bioenergie oder für die Aufforstung landwirtschaftliche Nutzfläche. Würden dabei korrekterweise die mittlere oder gar die hohe Variante der Bevölkerungsentwicklung berücksichtigt, würde Bioenergie stets in ethischen Konflikt mit der Ernährungssicherheit geraten. Bioenergie könnte bei realistischer Berücksichtigung der Bevölkerungsentwicklung also ethisch akzeptabel gar nicht so stark wie angenommen ausgebaut werden. Diese Negativ-Emissions-Technologien können entsprechend nicht annähernd mit dem berücksichtigten erheblichen Ausmaß dabei helfen, den Klimawandel zu begrenzen, so dass schließlich die Energiewende bei realistischen Szenarien wesentlich herausfordernder wäre bzw. die Klimaschutzziele mit dem beschriebenen Aufwand nicht erreicht werden können.

Bevölkerungsszenarien der Illustrativen Modell-Pfade  

Abbildung 2: Bevölkerungsszenarien der Illustrativen Modell-Pfade des Spezial-Reports des Weltklimarates zu 1,5°C Klimawandel im Vergleich zu den aktuellen Prognosen der UN (Daten des Spezial-Reports: https://data.ene.iiasa.ac.at/iamc-1.5c-explorer, Daten der UN: https://population.un.org/wpp/).

 

Die im Spezial-Report des Weltklimarates 1,5°C Klimawandel verwendeten Energieszenarien der vier Illustrativen Modellpfade sind in Abbildung 3 im Vergleich zu den eigenen Szenarien gezeigt, die in grau dargestellt sind. Es ist deutlich, dass die Modellpfade P1 bis P3 eine so schnelle Reduzierung des CO2-Ausstoßes berücksichtigen, wie dies heute nicht mehr realistisch erreicht werden kann. Ursache dafür ist, dass auch diese Szenarien auf früheren Rechnungen aufbauen. Da der Ausbau nachhaltiger Energietechnologien allerdings nicht wie damals angenommen umgesetzt wurde, ist der Ausgangspunkt heute tatsächlich schlechter als damals voausgesagt und der Aufwand, um diesen Rückstand gegenüber früheren Schätzungen wieder aufzuholen, deutlich höher als in den Szenarien dargestellt. Lediglich das Szenario P4 ergibt einen realistisch erreichbaren Verlauf. Es werden bei P4 allerdings wie oben bereits beschrieben große Mengen BECCS und AR berücksichtigt, die bei dem mit hoher Wahrscheinlichkeit höheren Bevölkerungswachstum als in den Szenarien angenommen nicht ethisch vertretbar realisiert werden können. Damit ist letztendlich keiner der Illustrativen Modellpfade des Spezial-Reports des Weltklimarates realistisch und ethisch vertretbar umsetzbar.

Energieszenarien des Spezialreports des Weltklimarates zum 1,5°C Klimawandel 

Abbildung 3: Energieszenarien des Spezialreports des Weltklimarates zum 1,5°C Klimawandel im Vergleich zu den eigenen Szenarien (Daten des Spezial-Reports: https://data.ene.iiasa.ac.at/iamc-1.5c-explorer).

 

Auch in dem jüngsten Strategie-Papier der EU für eine nachhaltige Energieversorgung aus dem November 2018 wird in den zugrundeliegenden Studien nur die mittlere Variante des Bevölkerungswachstums in der Version von 2015 berücksichtigt (A Clean Planet for all - A European strategic long-term vision for a prosperous, modern, competitive and climate neutral economy (COM(2018) 773 final), und die zugrundeliegende Studien: Analysis in Support und Global Energy and Climate Outlook 2017 - how climate policies improve air quality). Wie aus Abbildung 1 ersichtlich weist allerdings bereits die aktuellere Version von 2017 ein höheres Bevölkerungswachstum als die Variante von 2015 aus und die eigene Metastudie legt nahe, dass wir sogar die hohe UN Bevölkerungs-Variante überschreiten können, wenn die Entwicklung sich unverändert fortsetzt. Das Anwachsen der Weltbevölkerung, das absehbar stärker ausfällt als in den Szenarien zugrunde gelegt, stellt also in Frage, ob die Ziele mit den vorgestellten Mitteln überhaupt ethisch vertretbar erreicht werden können.

Insgesamt zeichnen die aktuellen Leitlinien für die Politik ein deutlich zu optimistisches Bild. Während womöglich die Folgen des Klimawandels richtig beschrieben werden, wird für die Prognosen von Bevölkerungswachstum und Energiewende nur zu optimistisch (IPCC) oder höchstens ein Mittelszenario (EU) analysiert. Es fehlt die Berücksichtigung von ungünstigeren Szenarien, die ohne eine Veränderung der Entwicklung sogar realistisch eintreffen werden, wie in der eigenen Metastudie nachgewiesen wurde. So werden sich die Herausforderungen für die Menschheit absehbar deutlich dramatischer herausstellen als es heute erwartet wird.